Aufsatz für den Fachbereich Gesundheitspsychologie im BDP 2001
Inhalte:
Der familiäre Lebenskontext und seine Bedeutung
Menschen leben meist in ‚Familien' (Kleinfamilie, großfamiliäres Umfeld,
unvollständige Familien, Alleinerziehende mit Kindern, Stieffamilien,
Ersatzfamilien, familienähnliche Lebensgemeinschaften etc.). Sie möchten sich in
familiären Beziehungen und Gemeinschaften wohl und integriert fühlen, was ein
starkes Motiv ihres Fühlens, Denkens und Handelns ist. Wenn Menschen sich in
'Familien' integriert fühlen, fällt es ihnen viel leichter, körperlich und
seelisch gesund zu leben und sich bei körperlichen und psychischen Erkrankungen
zu heilen; wenn Menschen sich wenig in 'Familien' integriert fühlen und darunter
leiden, neigen sie mehr zu Erkrankungen von Körper und Psyche. ‚Familien' sind
auch primäre Sozialsysteme der Gesundheitsförderung und solidarischer
Gesundheitshilfe.
Die Weltgesundheitsorganisation betrachtet in der Zielstrategie "Gesundheit für
alle im 21. Jahrhundert" Familien als die wichtigsten Zielgruppen im Feld der
Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung, da die Unterstützung
partnerschaftlicher und familiärer Integrationsprozesse sich in vielen
Lebensphasen auf Gesundheits- und Krankheitsprozesse auswirken kann.
Seit den 70er Jahren spielt im Bereich professioneller psychosozialer Arbeit die
systemische Perspektive der Familienorientierung eine große Rolle: Die ‚Familie'
gilt als ein zu Stabilisierung strebendes System, in dem die Mitglieder durch
viel persönlichen Einsatz zur Integration beitragen.
Familiäre Zielgruppen
Unterstützung im Rahmen einer primären Gesundheitsfürsorge mit Gesundheits- und
Sozialdiensten bedürfen vor allem Familien mit besonderen Belastungen:
- unvollständige Familien, vor allem alleinstehende Elternteile mit Kindern
- Familien mit schwerwiegenden sozialen Belastungen wie Armut, Wohnungsnot,
Arbeitslosigkeit
- Familien mit traumatisierten, chronisch erkrankten, psychisch erkrankten,
behinderten, pflegebedürftigen und sterbenden Angehörigen
- Familien in der Trauerphase nach dem Verlust von Angehörigen, auch nach
Trennungen und Scheidungen
- Familien mit Suchtmittel missbrauchenden Angehörigen, auch wegen der
familiären Belastungen durch soziale und psychische Auswirkungen des
Suchtmittelmissbrauches
Ist ein Familienmitglied durch deutliche Störungen belastet, fühlen sich oftmals
auch andere Familienmitglieder belastet, meist weil sie ‚mit-leiden', helfen
wollen und sich dabei aber auch oft selbst hilflos fühlen.
In der
professionellen Gesundheitshilfe bestehen dann auch folgende systemunterstützenden Aufgaben:
- günstige Beziehungs-, Verständigungs- und
Kommunikationsmuster zwischen primär belasteten und betreuenden
Familienmitglieder fördern
- Unterstützungsmöglichkeiten für direkt belastete
Familienmitglieder modellhaft einsetzen und zeigen
- die Hilfefähigkeiten
betreuender Familienmitglieder professionell unterstützen
- die sozialen und
psychischen Entlastungsmöglichkeiten betreuender Familienmitglieder erweitern.
Familienorientierte Angebote der Hilfe
In der psychosozialen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Betreuung von
Kindern und Jugendlichen ist die gezielte Arbeit mit Familiensystemen weit
verbreitet, insbesondere in Erziehungsberatungsstellen und Einrichtungen der
Kinder- und Jugendpsychotherapie.
Im Gesundheitswesen gehört es in vielen Bereichen ‚zum guten Ton', Lebenspartner
und Familienmitglieder in die Gesundheitsarbeit mit individuellen Klienten
einzubeziehen.
Im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen gibt es vielfältige
familienorientierten Angebote mit direkten oder indirekten Zielen der
Gesundheitsförderung:
- Gesundheitshäuser mit partnerschafts- und familienorientierten
Gesundheitsförder-Angeboten
- Geburtsvorbereitungskurse für Paare
- sozialpsychiatrische Dienste
- ambulante Pflegedienste
- Beratungsstellen für psychosoziale Probleme
- Drogen- und Suchtberatungsstellen
- Selbsthilfegruppen für Betroffene und ihre Angehörigen
- Patientenschulungsmaßnahmen, in die Angehörige miteinbezogen werden können,
die seit dem Jahr 2000 auch als GKV-Leistungen zur ambulanten Rehabilitation
möglich sind
- Rehabilitationskliniken für Kinder
- Hospize, usw.
- Ehe- und Familienberatungsstellen
- Dienste der Jugend- und Sozialhilfe
- Familienbildungsstätten
- paar- und familienorientierte Angebote in der kirchlichen Erwachsenenbildung,
darunter auch die professionell entwickelte Trainings zur Stabilisierung von
Partnerschaft "Ein Partnerschaftliches Lernprogramm (EPL)" und "Konstruktive Ehe
und Kommunikation" (KEK).
Familienorientierung als gesellschaftliche Zukunftsaufgabe im Gesundheitswesen
Verstärkte Familienorientierung ist eine Querschnittaufgabe für Gesundheits-,
Jugend- und Sozialpolitik. Insbesondere ist der Gesundheitsfokus ‚Familie'
politisch noch deutlich zu verstärken. Die WHO empfiehlt u.a. den Einsatz von
Hausärzten und Familiengesundheitsschwestern, die in familiensystemischer
Betreuung fortgebildet sind.
Zur professionellen Familienarbeit brauchen Fachleute vermehrt soziale bzw.
system- und kommunikationsbezogene Fachkompetenzen und entsprechende
Fortbildungen dazu.
Die Arbeit von PsychologInnen für ‚Familien' und in der familienorientierten
Fortbildung
Viele PsychologInnen leisten gesundheitsfördernde und therapeutische
Familienarbeit, und zwar in der direkten Hilfe für Familiensysteme, auch durch
die Einbeziehung von Familienangehörigen in der Arbeit mit individuellen
KlientInnen und weiterhin im Bereich der Aus-, Weiter- und Fortbildung. In
vielen der o.g. Bereiche und Einrichtungen professioneller Familienhilfe
arbeiten PsychologInnen mit, insbesondere in Beratungsstellen und in
Einrichtungen zur Kinder- und Jugendpsychotherapie. PsychologInnen führen in
freiberuflichen Praxen Beratungen und Therapien für Paare und Familien sowie
Partnerschaftstraninings durch.
PsychologInnen arbeiten in der Aus-, Weiter- und Fortbildung für helfende
Berufe. Dabei tragen sie auch sehr zur Förderung der systemischen Perspektive
der Familienorientierung bei und befähigen Gesundheitsberufe zu system- und
familienorientiertem Denken und Handeln.
"Mehr Gesundheitsförderung für belastete Familien" ist ein zukunftsorientiertes
gesundheitspsychologisches Tätigkeitsfeld mit folgenden Aufgaben:
- Familienorientierung und ihre systemischen Perspektiven in allen
Aufgabenfeldern für Gesundheit betonen und entsprechende Sichtweisen in der
Fachwelt und der Öffentlichkeit verbreitern
- Konzeptionen systemischer familienorientierter Interventionen für
professionelle Formen der Gesundheitshilfe entwickeln, in Modellprojekten
durchführen und evaluieren
- in nahezu alle Formen professioneller Gesundheitsleistungen Familien miteinbeziehen,
die Art der Einbeziehung dokumentieren und Ergebnisse evaluieren
- in die Aus-, Weiter- und Fortbildung von Gesundheitsberufen,
insbesondere von Hausärzten
Familiengesundheitsschwestern und Pflegekräften, sowie in
Fortbildungen für Multiplikatoren im Erziehungs- und Sozialwesen systemische und familienbezogene Fachkompetenzen vermitteln.
Die zukunftsorientierten Marktchancen für den Einsatz gesundheitspsychologischer
Leistungen in o.g. Einrichtungen der Familienhilfe hängen im wesentlichen davon
ab, ob sich - neben den Spartendenzen in den öffentlichen Haushalten - die
gegenwärtigen Trends zu einer familienfreundlichen Gesamtpolitik verstärken.
Eine gesundheitsfördernde (nicht-therapeutische) Arbeit mit belasteten Familien
ist aus Finanzierungsgründen fast nur durch Anstellungen in Einrichtungen der
Familienhilfe möglich, jedoch kaum durch freiberufliche Tätigkeiten.
Freiberufliche Marktchancen können sich PsychologInnen mit
‚Familien-Spezialisierung' im Feld der Aus-, Weiter- und Fortbildung, im Feld
der Öffentlichkeitsarbeit und Medien sowie eventuell auch durch Mitarbeit in
familienorientierten Forschungsprojekten erobern.
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