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Vereinbarungen der Krankenkassen zur Prävention und Selbsthilfeförderung
Darstellung aus der Sicht eines Diplom-Psychologen
Maximilian Rieländer 08.08.2000
Die Spitzenverbände der Krankenkassen haben – gemäß
ihres Auftrages aus dem GKV-Reformgesetz – gemeinsame und einheitliche
Grundsätze zur primären Prävention, betrieblichen Gesundheitsförderung und
Selbsthilfeförderung beschlossen, um den erneuerten Paragraphen 20 SGB V
umzusetzen.
Primäre Prävention
Für die primäre Prävention besteht – gemäß dem
Gesetzesauftrag, sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen zu
vermindern – die schwierige Aufgabe, sozial benachteiligten Zielgruppen den
Zugang zu Präventionsleistungen zu ermöglichen, während Präventionsangebote
meist mehr durch relativ gesunde Personen mit höherem Sozialstatus in
Anspruch genommen werden. Deshalb sind für die genannten Zielgruppen
spezifische und niederschwellige Zugangswege auszuloten und zu erproben.
Als
erfolgversprechend gilt dabei – gemäß der WHO-Projekte – der Setting-Ansatz
(früher: ‚Verhältnisprävention’), d.h. der Zugang zu den Zielgruppen
in ihren gegebenen sozialen Strukturen und die Durchführung von
Gesundheitsprojekten in/für Familien, Kindergärten, Schulen, Betrieben und
Gemeinden. Der Setting-Ansatz zielt auch über die aktive Beteiligung der
Betroffenen einen Prozess von organisatorischen Veränderungen an, um
gesundheitsgerechtere Strukturbedingungen zu schaffen. Der Setting-Ansatz
bedarf innerhalb der jeweiligen Settings der Kooperation zwischen
verschiedenen gesellschaftlichen Organisationen, Institutionen und informellen
Gruppen sowie entsprechender finanzieller Kooperationen.
Für den Setting-Ansatz werden Möglichkeiten und Ansätze
der schulischen Gesundheitsförderung beispielhaft ausgeführt;
Zielsetzungen und geeignete Organisationsprozesse werden genannt; Schulen wird
ein „Schulprojektteam” empfohlen, das Analyse- und Planungsprozesse
zugunsten einer ‚gesundheitsfördernden Schule’ begleiten kann.
Finanzielle Beteiligungen der Krankenkassen werden für Modellprojekte zur
schulischen Gesundheitsförderung nahegelegt.
Für den individuellen Ansatz (früher:
‚Verhaltensprävention’) werden einzelne Handlungsfelder gemäß des
Risikofaktorenkonzeptes separat dargestellt: Bewegung, Ernährung,
Stressreduktion/Entspannung sowie Suchtprävention, jedoch mit dem Hinweis,
„dass für eine erfolgreiche, ganzheitlich angelegte Prävention die Verknüpfung
von Maßnahmen aus verschiedenen Handlungsfeldern sinnvoll sein kann“. Für
die einzelnen Handlungsfelder werden Präventionskriterien, deren Wirksamkeit
nachgewiesen ist, in Bezug auf Bedarf, Wirksamkeit, Zielgruppe, Ziel, Inhalt,
Methodik und Anbieterqualifikation beschrieben. Präventionsmaßnahmen sollen
Teilnehmer befähigen und motivieren, das erworbene Wissen bzw. die erworbenen
Fertigkeiten/Übungen selbstständig anzuwenden und in ihren Alltag zu integrieren.
Als angemessene Anbieterqualifikation gilt eine akademische Ausbildung mit
schwerpunktmäßigen maßnahmenbezogenen Aus- und Fortbildungen. Für die
Durchführung von Maßnahmen sollen ein Trainermanual sowie
Teilnehmerunterlagen vorliegen.
Für Präventionsmaßnahmen zur Stressreduktion/Entspannung,
für den Diplom-PsychologInnen mit „anerkannter Zusatzqualifikation im
Bereich Stressreduktions- und Entspannungsmethoden und Kenntnissen in
verhaltenstherapeutischen Standardmethoden“ als vorrangige Anbieter genannt
werden, wird folgende Zielsetzung genannt: „Durch den Aufbau von Bewältigungs-
und Erholungskompetenz und präventiven Schutzfaktoren sowie die Stärkung
persönlicher Ressourcen sollen chronische Stressfolgen vermieden und das
Erregungsniveau gesenkt werden.“ Als Zielgruppe gelten „Versicherte mit
(nicht existentieller und behandlungsbedürftiger) Stressbelastung, die lernen
wollen, damit sicherer und gesundheits-bewusster umzugehen“. Als Inhalte
gelten: Definition von Stress, Analyse der eigenen Belastungssituation,
Erkennen der Ursachen der Stressentstehung, Problemlösungsstrategien
(kognitiv, emotional und physiologisch), aktive systematische Entspannung, Stärkung
persönlicher Ressourcen, Kombinationsprogramme (z.B. mit Bewegung). Als
Methoden werden erwähnt: verhaltenstherapeutisch orientierte systematische
Trainingsprogramme für Gruppen mit einem ganzheitlicher Ansatz, Orientierung
an individuellen Stressproblemen der Teilnehmer, Einbeziehung des sozialen
Umfeldes, Anleitung zur Selbstbeobachtung in belastenden Situationen,
praktische Einübung von Entspannungs- und Stressreduktionsmethoden, Anleitung
für Übungen zu Hause.
Für Präventionsmaßnahmen zur Suchtprävention, für
den Diplom-PsychologInnen mit „anerkannter Zusatzqualifikation im Bereich
Suchtberatung und Erwachsenenbildung“ als vorrangige Anbieter genannt
werden, gelten „Versicherte mit riskantem, schädlichem Konsumverhalten“
als Zielgruppe. Ziele sind: Förderung eines kritischen und bewussten Umgangs
mit Genussmitteln, Stärkung der persönlichen Kompetenzen im
gesundheitsbewussten Umgang mit Belastungen, Förderung eines positiven
gesellschaftlichen Images eines gesundheitsbewussten und suchtmittelfreien
Lebens. Als Inhalte gelten: Aufklärung über physische und psychische Wirkung
von Genuss- und Rauschmitteln, Reflektion von Genussfähigkeit und
Belastungsbewältigung unter besonderer Berücksichtigung von Erfahrungen mit
psychisch wirksamen Substanzen, Reflektion des persönlichen Konsums und
Sensibilisierung für die Übergänge zwischen Genuss - Missbrauch -
Abhängigkeit,
Vermittlung von Wissen hinsichtlich der Entwicklung von nikotin- und
alkoholassoziierten Erkrankungen sowie von Abhängigkeit, Darstellung von
Hilfs- und Behandlungsmöglichkeiten, Förderung protektiver Faktoren, Stärkung
von persönlichen Ressourcen. Als Methoden werden erwähnt: Schaffung
geeigneter Kommunikations- und Informationsstrukturen, spezifische
Ausrichtung auf die jeweilige Zielgruppe in der methodischen und inhaltlichen
Umsetzung, bei Bedarf Einbindung von Familienangehörigen sowie Berücksichtigung
sozialer Systeme und Peergruppen, aufsuchende Programme zur Alkohol- und
Drogenprävention (z.B. Schule), verhaltensorientierter Ansatz in Gruppen.
Für die Dokumentation und Erfolgskontrolle von
Präventionsmaßnahmen sollen zweckmäßige Verfahren aufgebaut und etabliert
werden. Die Krankenkassen wollen für finanzierte Maßnahmen ein
Dokumentationsinstrument zur Verfügung stellen und Dokumentationen jährlich
kassenartenspezifisch auswerten. Bezüglich der Erfolgskontrolle wollen sich
die Krankenkassen ebenfalls auf ein gemeinsames und einheitliches Instrument
einigen.
Zur Weiterentwicklung der Prävention können auch Modellprojekte
mit innovativen Präventionsmaßnahmen gefördert werden, um durch
begleitende Dokumentation und Evaluation die Wirksamkeit weiterer Präventionsprinzipien
zu erproben.
Zur Weiterentwicklung von Präventionsleistungen
wollen die Krankenkassen – gemäß dem gesetzlichen Auftrag zur Hinzuziehung
„unabhängigen Sachverstandes“ – eine „Beratende Kommission der
Spitzenverbände der Krankenkassen für Primärprävention und betriebliche
Gesundheitsförderung” einrichten. Zu dieser Kommission werden als fester
Kern Vertreter folgender Organisationen gehören: Sachverständigenrat für
die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Bundesvereinigung für
Gesundheit, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin und
Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften. Themenspezifisch können weitere
Experten hinzugezogen werden. Aufgaben der Kommission sind: Mitwirkung bei
der Qualitätssicherung bzw. Bewertung der Ergebnisse, die im Bereich der Primärprävention
und betrieblichen Gesundheitsförderung erzielt wurden, Erfahrungsaustausch über
Praxismodelle und Weitergabe wissenschaftlicher Erkenntnisse,
Weiterentwicklung von Auswertungsmethoden für gesundheitsbezogene Daten und
Ableitung geeigneter Präventionsmaßnahmen, Fortentwicklung des Leitfadens
zur Prävention, Initiierung von weiteren Kooperationen.
Betriebliche Gesundheitsförderung
Die Krankenkassen beschäftigen sich seit mehreren
Jahren intensiv mit der betrieblichen Gesundheitsförderung; sie sehen darin
den besten Zugang und Setting-Ansatz zur Gesundheitsförderung für erwachsene
Menschen, wobei sie mit der WHO-Konzeption ‚Gesundheit21’ übereinstimmen.
Die Krankenkassen betonen, dass in Betrieben eine
gesundheitsförderliche Organisationsentwicklung zur Voraussetzung für die
Effektivität weiterer einzelner Gesundheitsförderungsmaßnahmen gehört. Die
Unterstützung einer
gesundheitsförderlichen
Organisationsentwicklung in Betrieben durch Initiations-, Beratungs-,
Moderations- und Evaluationsaktivitäten erscheint notwendig und wird
indirekt als prioritäres
Handlungsfeld beschrieben. Solche Unterstützungsaktivitäten sollten Kenntnisse aus
der Arbeits- Betriebs- und Organisationspsychologie verstärkt integrieren und
könnten auch von qualifizierten externen Fachleuten (z.B. freiberufliche
PsychologInnen im Feld der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie)
geleistet werden.
Als Handlungsfelder für einzelne Gesundheitsförderungsmaßnahmen
werden genannt: arbeitsbedingte körperliche Belastungen, insbesondere
Vorbeugung und Reduzierung arbeitsbedingter Belastungen des
Bewegungsapparates, Betriebsverpflegung, Stressmanagement und
gesundheitsgerechte Mitarbeiterführung, Suchtprävention.
Selbsthilfeförderung
Die Grundsätze zur Selbsthilfeförderung haben die
Krankenkassen in Kooperation mit den 3 wesentlichen Dachverbänden der
Selbsthilfe (Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte, Deutscher Paritätischer
Wohlfahrtsverband, Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen)
beschlossen.
Die Krankenkassen sind bereit, Selbsthilfegruppen,
Selbsthilfe-Organisationen und Selbsthilfe-Kontaktstellen finanziell zu
unterstützen, wobei sie ihre finanziellen Unterstützungen nur als Ergänzung
zu den bisherigen finanziellen Unterstützungen im Selbsthilfebereich durch öffentliche
Mittel des Bundes, der Länder und Gemeinden verstehen. Die Unterstützung
gilt nur für die gesundheitsbezogene Selbsthilfe bzw. für die Selbsthilfe
zur Bewältigung körperlicher und psychischer Erkrankungen. Die finanzielle
Unterstützung soll 1 DM pro versicherte Person und Jahr betragen und kann
projektbezogen und pauschal gegeben werden. Selbsthilfegruppen,
-Organisationen und -Kontaktstellen können projektbezogene Unterstützungen für
„Information, Aufklärung und Beratung der Betroffenen, ihre Angehörigen
oder andere interessierte sowie Qualifizierungsmaßnahmen, die im
Zusammenhang mit der Selbsthilfearbeit stehen“ sowie für „Öffentlichkeitsarbeit
und Durchführung von Veranstaltungen und Aktionen (z.B. Broschüren,
Informationsmedien, Kongresse, Workshops, Seminare, Selbsthilfetage)“
beantragen und erhalten.
Wenn Selbsthilfegruppen also Fortbildungsmaßnahmen
mit PsychologInnen (Vorträge, Workshops, Seminare) durchführen wollen, können
sie dafür finanzielle Unterstützungen von Krankenkassen erhalten.
Dementsprechend kann es sich also für PsychologInnen lohnen, den
Selbsthilfegruppen, -Organisationen und -Kontaktstellen entsprechende Angebote
zu machen.
© Maximilian Rieländer
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erstellt: 18.12.1997
aktualisiert:
27.10.2003
© Maximilian Rieländer
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